Eine langjährige Mitarbeiterin der Bundesheimatgruppe. Ursula Burghardt
Von Bunzlau nach Bonn
Der denkwürdige Lebensweg der Bunzlauerin Ursula Burghardt (25. Oktober 1921 – 10. August 2021)
Sie wurde in Bunzlau geboren und hat ihre Fähigkeit über mehrere Jahrzehnte in die Büroarbeit der Heimatgruppe eingebracht.
Gewiss, das alte deutsche Bunzlau ist längst Geschichte geworden. Wie vieles andere aus dem vergangenen Jahrhundert. Und doch ist uns diese schicksalhafte Epoche noch in vielem gegenwärtig: in den unbegreiflichen Katastrophen jener Zeit, die bis heute schmerzen, aber auch in den Schätzen, die uns die Geschichte hinterlassen hat. Dazu zählen neben dem großen kulturellen Erbe Deutschlands, das Gott sei Dank gerettet oder wiederhergestellt werden konnte, die gewaltige Aufbau- und Integrationsleistung nach Ende des Zweiten Weltkrieges – und deren Vollbringer. Leider gibt es immer weniger Menschen unter uns, die all dies erlebt, erlitten und mitgestaltet haben. Wir haben allen Grund, ihnen mit Respekt und mit Dankbarkeit zu begegnen.
Eine davon war Ursula („Ursel“) Burghardt, Archivarin und Büromitarbeiterin der Bundesheimatgruppe Bunzlau in Siegburg. Am 25. Oktober 2021 hätten wir ihren 100. Geburtstag begehen können. Kurz davor, am 10. August, wurde sie uns nach kurzer Krankheit genommen. Sie starb in einem Bonner Altenheim, in das sie erst im Frühjahr 2020 eingezogen war, nicht weit entfernt von ihrer alten Wohnung im Stadtteil Kessenich.
Als sie am 25. Oktober 1921 in Bunzlau das Licht der Welt erblickte, lagen noch die Schatten des Ersten Weltkrieges auf dem Deutschen Reich und über der preußischen Provinz Schlesien. Die Mutter, eine geborene Wander, führte in der Töpferstraße Nr. 1 bis Februar 1945 ein Kolonialwarengeschäft, der Vater, der aus Groß Hartmannsdorf stammte, arbeitete bei Hoffmann & Co. Nach dem Besuch der Volksschule, der Dorotheenschule, wo sie bei ihrem Klassenlehrer, dem bekannten Heimatforscher Arnold Glander, eine ausgesprochen gute Allgemeinbildung erhielt – ging sie bei der Tonwarenfabrik Eduard Küttner in die Lehre. Küttner produzierte ähnlich wie Hoffmann & Co. Tonröhren, Wasch-und Sanitär-Anlagen, Futtertränken, auch Vorratstöpfe etc. Dort erlernte sie den Beruf der Kontoristin, blieb dort und erhielt 1943 sogar die Prokura. Ihr damals erworbenes solides bürotechnische Wissen, ihr „großer Fleiß und ihr umsichtiges Arbeiten“ (Zeugnis der Fa. Küttner aus dem Februar 1944) kamen Jahrzehnte später der Bunzlauer Heimatstube in Siegburg zu Gute.
Vor allem profitierte die Bundesheimatgruppe von ihrem enormen Wissen über das alte deutsche Bunzlau. Man hatte den Eindruck, dass sie mit jeder Ecke vertraut war und fast jeden der damaligen Bunzlauer persönlich kannte.
Das hängt nicht zuletzt mit ihrer Freude am Sport zusammen, die sie übrigens ein Leben lang bewahrt hat. Zweimal wöchentlich ging sie zum Turnen beim MTV Bunzlau, wo sie mit vielen Sportbegeisterten zusammentraf. Als Leichtathletin mit weit überdurchschnittlichen Leistungen und als tüchtige Handballspielerin nahm sie schon in jungen Jahren an regionalen und überregionalen Wettkämpfen in Städten Schlesiens und in Ostpreußen teil, absolvierte auch einen Lehrgang in Hannover und ein Seminar für Gruppenleiterinnen an der Hochschule für Leibesübungen in Berlin. Das gerettete Fotoalbum erzählt davon. Klar, dass sie im BdM (Bund deutscher Mädel) eine Sportgruppe leitete.
Karl-Heinz, der jüngere Bruder, lernte derweil bei der Concordia und kam anschließend zur Wehrmacht. Der politische Horizont verdüsterte sich zusehends. Die Bunzlauer Synagoge wurde niedergebrannt, der Zweite Weltkrieg begann, Bunzlau erhielt zwei Außenlager des KZs Groß Rosen. Die Gefangenen mussten Zwangsarbeit in der Bunzlauer Rüstungsindustrie leisten. Als Mutter und Tochter einmal aus dem Fenster schauten und einen Trupp abgemergelter Arbeitshäftlinge in KZ-Kleidung erblickten, der unter Bewachung in die Rothlacher-Straße hereinkam, sagte die Mutter zu Tochter Ursel: „Gnade uns Gott, Mädel, wenn das einmal auf uns zurückschlägt.“
Wie schlimm es dann kommen würde, konnte selbst sie nicht ahnen. Als die Russen am 10. Februar 1945 vor Bunzlau standen und die meisten Bewohner hals über kopf flohen, blieb die Mutter im Vertrauen auf die russische Propaganda (Befreiung vom Faschismus und Wiederherstellung normaler rechtsstaatlicher Verhältnisse) trotz dringender Warnungen mit ihrem Ehemann zurück. Schließlich hatten sich beide nichts zuschulden kommen lassen. Ursel, die ihre Eltern nicht zur Flucht hatte überreden können, fand nach einer Odyssee bei Verwandten in Dessau-Rosslau Zuflucht. Der Vater wurde im März 1945 von den Russen verschleppt und kam bereits am 17. Mai ums Leben. Jahrzehnte später konnte Frau Burghardt auf einem großen Gräberfeld in der Nähe von Breslau an der vermutlichen Begräbnisstätte ihres Vaters Blumen niederlegen.
Bei Kriegsende kehrte die junge Frau wie so viele in die zerstörte Heimat zurück und fand die Mutter allein und noch lebend vor. Schon bald danach, am 24. Juli 1945, wurden Mutter und Tochter mit vielen anderen Bunzlauern im Zuge der ersten sogenannten Wilden Vertreibung erneut zum Verlassen der Heimat gezwungen, und sie gelangte abermals nach Rosslau. Eine Rückkehr war jetzt unmöglich.
Beim Bahnhof Dessau-Rosslau, wo schon ihr Bruder arbeitete, der inzwischen aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, fand sie eine Anstellung als Lohnrechnerin. Das Leben begann sich zu normalisieren. Der Wiederaufbau wurde in Angriff genommen, auch in der Sowjetischen Besatzungszone. Selbst zum Handballspiel im Sportverein war wieder Gelegenheit. Bei einem „Westbesuch“ nahm sie unerlaubterweise 1954 an einem der allerersten Bunzlauer Heimattreffen in Siegburg teil.
Bald darauf erfolgte der nächste Lebenseinschnitt. Aus politischen Gründen musste sie 1955 die DDR verlassen. Bruder und Mutter blieben in Dessau zurück. Auf Umwegen gelangte sie, vermittelt durch Schulkameradin Hilde Blumberg, nach Bonn. Sie sprach vergeblich beim Verteidigungsministerium und beim Gesundheitsministerium vor, ehe sie Anfang 1958 durch das Arbeitsamt eine Stelle in der Bonner Firma Heinrich August Schulte bekam, einer Tochter von Thyssen-Krupp. Zuletzt war sie dort Chef-Sekretärin. Sie blickte gerne auf diese Zeit zurück.
Mit ihrem Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1982 begann abermals ein neuer und für die Heimatgruppe Bunzlau ungemein fruchtbarer Lebensabschnitt. Angestoßen durch die Bunzlauerin Hedwig Kindler – man muss ihr bis heute dafür dankbar sein – übernahm Ursula Burghardt Aufgaben im Vorstand der Bundesheimatgruppe in Siegburg. Sie brachte an zwei Wochentagen ihre ganze Kompetenz in die damals noch sehr umfangreiche Büro-Arbeit ein, und als es nötig wurde, begab sie sich mutig und konsequent und erfolgreich an die Neu-Inventarisierung des Bestands der Heimatstube. Die dabei erworbenen Sach- und Methodenkenntnisse rechtfertigen es, sie als die Archivarin der Bundesheimatgruppe zu bezeichnen. Doch sie war sich nicht zu schade, auch die Ablagen zu machen, Telefondienst zu leisten und die anfallende Korrespondenz zu erledigen – gewandt, routiniert und zuverlässig. Leider hat sie den Sprung von der Schreibmaschine zum PC nicht mehr gepackt. Doch dafür trug jedes ihrer Schreiben ihre ganz persönliche Note.
Eigentlich wollte sie 2006 beim großen Bunzlauer Heimattreffen in Görlitz nach mehr als 20 Jahren Vorstandsarbeit – übergangsweise sogar als Vorsitzende – gemeinsam mit ihrer Kollegin Maria Raschke in den wohlverdienten „Heimatstuben-Ruhestand“ gehen. Aber dann kam der arbeitsintensive Umzug der Heimatgruppe, dann war da ein gewisser Personalmangel, und außerdem machte es ihr einfach Freude, regelmäßig unter vertrauten Menschen zu sein und in der Vergangenheit und Gegenwart, kurz: in der ihr verbliebenen Welt ihres geliebten Bunzlaus zu leben und zu arbeiten. Erst 2016 beendete sie ihre ständige Mitarbeit, war aber bei Fragen immer ansprechbar und hat sich die Sonderveranstaltungen der Bundesheimatgruppe fast nie entgehen lassen, schon wegen des schlesischen Mohnkuchens…
Natürlich hat sie die Heimat immer wieder besucht. Auch wenn ihr altes Wohnhaus der modernen Straßenführung weichen musste und sich auf ihrem ehemaligen Arbeitsplatz ein öder Busbahnhof angesiedelt hat. Mit den polnischen Gästen in der Heimatstube kam sie dank ihrer praktischen und gewandten Art gut zurecht. Auch sie profitierten von ihrer Sachkenntnis, sowohl hinsichtlich des alten Bunzlaus als auch hinsichtlich des Archiv- und Bibliotheksmaterials in der Heimatstube, das sie durch jahrelange Arbeit aus dem ff kannte und bereitwillig Interessenten zur Nutzung zur Verfügung gestellt hat. Am meisten war sie in ihrem Element, wenn alte Bunzlauer anriefen oder wenn deren Kinder und Enkel oder Heimatforscher, Familienforscher oder Nachwuchshistoriker eine solide Auskunft in Sachen Bunzlau brauchten.
Die Patenstadt Siegburg hat sie 1991 für ihre Verdienste mit einer Silbermedaille geehrt und die Landsmannschaft Schlesien hat sie ausgezeichnet. Zweifellos hätte sie auch eine Anerkennung seitens der polnischen Bunzlauer verdient, zumal diese sich inzwischen mehrheitlich der deutschen Wurzeln ihrer Stadt und der jahrhundertelangen deutschen Geschichte Schlesiens bewusst sind und sich zu ihr bekennen.
Große Worte mochte Ursel Burghardt nicht. Doch ihre Spuren bleiben unübersehbar.
Peter Börner