Bunzlau 1945/6 in den Augen eines deutschen Kindes
Der folgende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den Peter Börner 2001 auf einem Internationalen Historiker- Symposion im Bunzlauer Rathaus gehalten hat.
Wir, die Familie Börner, wohnten bis zum 10. Februar 1945 in Tillendorf vor den Toren Bunzlaus im Haus 57b. Mein Vater, der Industriekaufmann Kurt Börner, war nach schwerer Kriegsverwundung 1944 wieder beim Volkssturm. Bei Annäherung der Russen floh meine Mutter Anny Börner in der Nacht vom 9. auf den 10. Februar 1945 mit meinen Bruder Lutz (* 7. September 1944) im Kinderwagen nach Gablonz im Sudetenland. Dorthin hatte mich mein Opa schon vorher abgeholt. In Gablonz erlebten wir das Kriegsende. Sogleich wurden wir von den Tschechen „ausgewiesen“. Die kleine Familie (Vati war inzwischen zu uns gestoßen), fuhr mit dem Zug bis zur Grenze und treckte weiter nach Bunzlau.
Nach Zwischenstationen – ich erinnere mich an chaotische Wohn-Verhältnisse in der Gärtnerei Kittel in Tillendorf – bezogen wir wieder unsere total verdreckte Wohnung in ersten Stock, als wir bemerkten hatten, dass die Russen aus unserem Wohnhaus heraus waren. Große Aufräumungsarbeiten.
Doch schon am 23. Juni 1945 erfolgte die wilde (d.h. unorganisierte ersten) Vertreibung aus Bunzlau zu Fuß Richtung Görlitz. Ich sehe noch die lange gerade Landstraße vor mir und die wiederkehrenden Telegraphenmasten mit den weißen Isolatoren. In Görlitz keine Aufnahme. Daher zurückgetreckt. Mutti wurde unterwegs in Paritz von Russen vergewaltigt. Ich erinnere mich an eine von mir nicht begriffene Aufregung im Treck und an Vatis blutende Hand. – Wir hatten einen Hund namens „Greif“ dabei.
Erneut Bezug unserer Wohnung. Vati holte den aus dem Fenster geworfenen Elektroherd aus dem Garten und schloss ihn an. Stundenweise gab es ja wieder Strom. Das Heraushängen einer von den Russen zurückgelassenen Roten Fahne mit Hammer und Sichel schützte uns anfangs vor marodierenden Banden. Mit „Tante“ Getrud Langner, einer Nachbarin, die auf dem Treck zu uns gestoßen war und bei jetzt uns wohnte, Betteln mit der Milchkanne am großen Suppenkessel im Sammellager für zurückzuschickende Ausländer an der Görlitzer Straße. Unsere Familie, praktisch eine WG mit zwei weiteren Personen, freundete sich mit zwei jungen Italienern an, „Onkel“ Emilio (Arbasi) aus Mailand und sein Vetter Francesco. Sie uns besuchten öfters in Tillendorf und brachten mir Spielzeug und Bilderbücher mit.
Ich habe mehrere kleine Episoden in Erinnerung.
Zum Beispiel kam an der Straße, wo ich spielte, ein junger russischer Soldat, ein Fuhrwerk lenkend, vorbei und forderte mich nachdrücklich auf mitzukommen, worauf ich mich nach längerem Zögern einließ. In der Kaserne zog er ein Messer, öffnete seinen Spind, holte ein duftendes Brot heraus, schnitt lachend eine große Scheibe ab, streute dick Zucker darauf und gab sie mir. Köstlich! – Einmal standen fremde Leute in unserer Wohnung, die erfahren hatten, dass wir einen großen Klumpen farbiges (Vieh-)Salz hatten. Sie tauschten ihn gegen eine Kuckucksuhr ein, so dass wir wieder eine Uhr hatten. – Ich weiß noch, dass ich mit „Tante Langner“ über eine provisorische Brücke nach Bunzlau hereinging, wo sie unter Trümmern (Foto aus A. Bober-Tubaj, Boleslawiec 1945-1966) nach irgendetwas suchte.
Sie entdeckte aber „nur“ einen Satz kleiner silberner Löffel, über die ich staunte.
Eine ganz knappe Schilderung unserer damaligen Situation steht auf einer erhaltenen Postkarte , die meine Mutter am 16.11.1945 an eine Bekannte in Gablonz schrieb.
Mutti, die sich als Tschechin ausgab, somit eine „slawische Schwester“, fand eine ordentliche Anstellung zunächst im Rathaus, wo sie u.a. half, die deutschen Straßennamen umzubenennen (lt. einem von mir eingesehenem polnischen Dokument), später arbeitete sie als Sekretärin im Landratsamt.
Ich sehe noch auf einem Platz die neuen ganz merkwürdig aussehenden Traktoren, ein Geschenk der UNRA. Muttis Chef Wisniewski war, wie sie sagte, „ein gebildeter, nobler Mann“.
Mit seiner Tochter freundete sie sich an. Sie erfuhr von polnischen Kolleginnen, was Deutsche in Warschau angerichtet hatten. Vati arbeitete in einer von Russen geführten Gärtnerei in der Nähe. Wenn er zum Essen nach Hause kommen sollte, wurde am Fenster mit einem Hammer mehrfach auf ein klingendes Eisen geschlagen. Abend hörte wir die schönen Chorgesänge der Russen. Ich liebe russische Musik bis heute.
Als eine Verhaftungswelle losbrach, wurde mein Vater, der ein überzeugter Nationalsozialist gewesen war, von Deutschen denunziert. Ich sehe junge Miliz-Soldaten mich umringend vor mir in der Wohnung stehen. Sie bedrängen mich dem suggestiven Ruf „Karabiner!? Karabiner!!“, was ich schließlich, ohne dieses Wort zu begreifen, bejahte, worauf meine Eltern händeringend protestierten. Natürlich wurde nichts fanden, Gottseidank auch nicht das verbotene Radio, versteckt unter den Kohlen im Keller. Vati wurde dann doch noch verhaftet und in ein provisorisches Kellergefängnis eingesperrt und misshandelt, Mutti, die ihn herausholen wollte, ebenfalls. Durch einen geschrienen Wortwechsel („du verfluchte deutsche Hure!“) bemerkte Vati, dass seine Frau ebenfalls gefangen war. – Am Ende gelang es Mutti dank ihrer Beziehungen (s.o.) freizukommen. Sie erreichte nach einigen Tagen auch Vatis Freilassung. – Das Kind, das sie durch die Vergewaltigung bekommen hatte, „Heide“, starb nach kurzer Zeit (Dokument). Es wurde in Tillendorf auf dem evangelischen Friedhof beerdigt.
Ich weiß noch, dass mir bei einem Gang durch Bunzlau Mutti ganz schnell den Finger auf den Mund legte, als uns Soldaten mit den eckigen Mützen (die sind mir bis heute unsympathisch) entgegenkamen (Foto aus Bildband). Sie sollten nicht hören, dass wir deutsch sprachen. – Einmal war ich in einem Haus und hörte Menschen jammern und wehklagen: „Su a Elend!!“ Da wurde – ich sollte das eigentlich nicht sehen – ein Junge ohne Unterschenkel aufs Klo getragen.
Unsere neuen Nachbarn waren Polen aus Jugoslawien. Ich spielte mit einem Mädchen (meine erste Freundin?) in einem Sandhaufen. Wie mögen wir uns verständigt haben? Später erinnerte ich mich nur an zwei polnische Wörter: „Chleb“ (Brot) und „Boleslawiec“ (Bunzlau). Wir Kinder untersuchten auch verdorbene Weckgläser im verlassenen Haus von Major Zahn gegenüber. – Ein polnischer Junge aus dem Nachbarhaus vorn hatte mir meinen Holzroller weggenommen. Ich schlich nach einigen Tagen mit klopfendem Herzen in den finsteren Flur, entdeckte tatsächlich den Roller und klaute ihn zurück.
Am 12.Juli 1946 war unsere Aussiedlung.
Meine Mutter, der man nahegelegt hatte, sich scheiden zulassen, für Polen zu optieren und zu bleiben, sagte aber: „Wohin die Liebe fällt!“ Sie hatte, wie sie später erzählte, im Büro noch unsere Namen auf die Transportliste von Wagon 2 getippt. Ich erinnere mich an einen großen öden Platz, wo wir lange herumstanden und warteten. Wir durften so viel mitnehmen, wie wir tragen konnten, und den Kinderwagen. Ich hatte zerschlissene bunte Bilderbücher (Scan Blumenhimmel) in meinen kleinen Rucksack gepackt. Sie und den grünen Stoffrucksack besitze ich noch heute und habe ihn gelegentlich in Gebrauch. Während der Bahnfahrt hockte ich an der einen Spalt offenstehenden Schiebetür des Güterwagons und sah die Landschaft vorbeiziehen. In Kohlfurt wurde der Transport von den Briten übernommen. Bei der Gelegenheit wurden wir unter empörtem Protest-Geschrei der Reisenden mit einer großen Spritze mit weißem Desinfektionspulver eingesprüht.
Nach der Ankunft in der Britischen Besatzungszone kamen wir über das Durchgangslager Mariental nach Vreden a.d. Leine. In einem Haus bewohnten wir zwei leer geräumte Zimmer. Ich erinnere mich nur an ein Zimmer, wo wir auf dem Boden schliefen. Die Kleidung hing an einem Nagel an der Wand. Ich ging mit, wenn wir in Häusern Essbesteck und Geschirr zusammenbettelten.
Später zogen wir nach Vasbeck / Kreis Waldeck und wohnten oben im Haus einer Bauernfamilie. In Vasbeck wurde ich eingeschult. Ich weiß noch, dass ich lange Zeit Albträume hatte: marschierende Stiefel und Gestalten, aussehend wie der Suppenkasper im letzten Stadium, tanzen bedrohlich mit schmalen dreieckigen Gesichtern.
Aber da beginnen andere, neue Episoden.
Ein gelungenes langes Leben hat vieles überlagert. 1984 besuchte ich via einer Hummel-Reise ins Riesengebirge (Hotel Skalny in Krummhübel) erstmalig wieder Bunzlau und Tillendorf. Den Weg von der Stadt zum Haus in Tillendorf konnte ich dem Taxifahrer mit leichter Unsicherheit aus dem Gedächtnis sagen. – Später 1992/3 hat die an mich – zufällig ?!? – herangetragene Aufgabe, den Schüleraustausch meiner Siegburger Schule mit einer Schule in Bunzlau zu organisieren, viele Wunden gelindert und vielleicht geheilt. Ich lernte in Polen ganz normale und einige wunderbare, einfühlsame, liebenswerte Menschen kennen, und ich entdeckte mit ihrer Hilfe ganz viel Schönes, Sehenswertes von Schlesien. Doch die ersten Lebensjahre in Tillendorf und Bunzlau und Gablonz und unterwegs blieben und bleiben unvergessen. Peter Börner, im Dezember 2024