Die Streiflichter aus der Entwicklung der Provinzialheil- und Pflegeanstalt
Dr. Clemens Neisser. Erstveröffentlichung im Jahre 1927 in „Bunzlauer Volksstimme“.
Am 17. Juli 1863, nach achtjähriger Bauzeit, wurde die hiesige Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt, damals als Irren-Pflegeanstalt bezeichnet, der Benützung übergeben. An der Spitze der provinzialständischen Kommissione für die Ausführung stand Graf Burghauß, der die Last und das Verdienst der gesamten Planung und Vorarbeit trug. Zu seinem Gedenken hat die an der westlichen Begrenzung der Anstalt gelegene Straße kürzlich ihren Namen erhalten. Die technische Bauausführung wurde nach Steudners Plänen von dem Königlichen Baumeister Schiller geleitet, dem Vater unseres verehrten Geheimrats Schiller, des getreuen Hüters unseres Museums. Im Lichte jener Zeit muß das Werk als eine großartige Schöpfung bewertet werden. Nur wenige Vorbilder gab es in Deutschland; die Psychiatrie, die jüngste medizinische Disziplin, steckte noch in den Kinderschuhen und die Architekten verfügten nicht entfernt über die heutige Gestaltungskunst in der Grundrißlösung, und auch die Unentwickeltheit der Verkehrsverhältnisse und die Primitivität der allgemeinen kulturellen und öffentlichen Angelegenheiten muß bei der Bewertung der Schwierigkeiten in Betracht gezogen werden. Kulturhistorisches Interesse bietet schon ein Einblick in den Schriftwechsel bezüglich der Wahl des Ortes für die neue Anstalt. Ratibor und 13 oberschlesische Städte hatten sich dringend beworben unter Hinweis auf die besonderen Schwierigkeiten des weiten Transports ihrer Geisteskranken, der mit gewöhnlichen Wagen erfolgen mußte, da Geisteskranke von der Benützung der Eisenbahn und Posten damals ausgeschlossen waren! Von 23 nieder- und mittelschlesischen Städten und von 10 Privaten (Schloßbesitzer u. dgl.) waren Anerbietungen eingegangen. Schließlich blieben Liegnitz und Bunzlau im engsten Wettbewerb. Liegnitz rühmte sich im Besitz eines Telegraphenamtes und von 5 nach verschiedenen Richtungen gehenden Chausseen zu sein; Bunzlau wies auf seinen vorzüglichen Torf hin, der sogar von der Königliche Eisenbahndirektion in Görlitz gekauft werde, ferner auf die billigen Lebensmittelpreise und daß alle Montags hierorts Wochenmarkt gehalten wird, verbunden mit Getreide-, Garn-, Butter-, Grünzeug-, Obst-, Geflügel- und Gemüsemarkt. 30 Morgen Land, „beginnend 1000 Schritte von dem letzten Hause der Gnadenberger Straße“ sollten unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden und den Anstaltsbeamten wurde die Aufnahme in den Kommunalverband „ohne alle weiteren Nebenbedingungen“ zugesichert. Ausschlaggebend war schließlich die gesunde Lage und die Sicherstellung der Wasserversorgung, nachdem noch angrenzende 47 Morgen Acker- und Forstland mit dem Quellgebiet des Drüsselberges, aus dem schon die Oberstadt mit Wasser versorgt wurde, hatten für 3200 Taler hinzu erworben werden können. Es fehlte aber über die Verbrauchsmenge jegliche Erfahrung und als man die damals von England neu herübergekommene Einrichtung von „Water-Closets“ eingeführt hatte, zeigte sich, daß kaum ein Fünftel der zur Spülung erforderlichen Wassermenge vorhanden war und daß die Kloaken, die außerdem das atmosphärische Wasser aufzunehmen hatte, zu flach angelegt waren, so daß die übelsten Rückstauungen erfolgten. So kam es dann – ein Unikum in der Baugeschichte –, daß nach wenigen Jahren die Schwemmkanalisations-Anlage wieder herausgerissen und durch Senkgruben und Tonnenabfuhr ersetzt werden mußte! An diesem Punkte setzte nach annähernd 40 Jahren die Reform ein: Bürgermeister Richter als Polizeiverwalter verlangte den Anschluß an die städtische Kanalisation und dies gab den Anstoß zu einer großzügigen Umformung und Erneuerung der ganzen alten Anstalt, die sich in den Jahren 1905 – 1907 vollzog.
Die Anstalt in ihrer ursprünglichen Anlage für die Aufnahme von 400 Kranke berechnet, bestand auf jeder Geschlechtsseite aus zwei monumentalen Wohngebäuden und je einem aus Isolierzellen gesonderten Bau. Die Gebäude, unter sich verbunden, stellen gewissermaßen zusammen die Umfassungsmauern eines großen rechteckigen Hofes dar, in deren Mittelpunkt das Wirtschaftsgebäude mit Wäscherei und Kochküche gelegen ist. Der ganze Komplex war noch durch eine Steinmauer umfaßt. Es ist deutlich, daß alles auf den Sicherheitszweck abgestellt war. Die Krankengebäude enthielten einen durchgehenden hellen, geräumigen Korridor und zu einer Seite desselben, nebeneinander gelagert, eine Reihe schöner geräumiger Zimmer, ohne weitere Gliederung. Ein leitender Gesichtspunkt aus dem Behandlungszweck war in der Anlage der Räume nicht zu erkennen. Man wußte eben wohl theoretisch, daß es sich um Kranken handle, man hatte die humansten Gesichtspunkte und die besten Absichten, aber im Grunde genommen beschränkte sich die Einrichtung darauf, daß auf die Unterbringung störender und schwieriger Elemente in abgesonderte Zellenräume vorsorglich Bedacht genommen war. Die zweite Phase der Anstaltsentwicklung kennzeichnet sich durch die Fürsorge für freiere Beschäftigungsmöglichkeit der Kranken; es wurden 1869 und 1873 sogenannte Koloniehäuser für diesen Zweck gebaut und 1887 das der Anstalt unmittelbar benachbarte Doussinsche Drüsselvorwerk zugekauft und das Gutshaus mit 30 männlichen Kranken belegt. Abgesehen von drei Pferdeknechten und vier Mägden wurden sämtliche Arbeitsverrichtungen einschließlich der Erntearbeiten durch Kranke bewältigt. Außerdem war durch den tatkräftigen Direktor Sioli im Dorf Looswitz die damals noch neue Einrichtung der Familienpflege begründet.
Im Jahre 1908 erwarb dann die Anstalt alles Gelände bis zum Viehmarkt und schloß mit der Stadt einen Vertrag, wonach sie aus dem Bebauungsplane herausgelassen wurde, dafür aber eine 18 Meter breite Straße – die jetzige Burghaußstraße – aus eigenen Kräften ausführen sollte. Die große städtische Schuttgrube, die den bis dahin recht ungepflegten Weg von der Stadt zu Anstalt flankierte und bei dem zumeist herrschenden Südwestwind die Gärten und Anlagen mit einer Fülle von Papieren überflutete, ging durch Geländetausch in unseren Besitz über. Sie ist aufgefüllt und das Land zu Schrebergärten für das Anstaltspersonal hergegeben. Wer heute dort vorüber geht und das Blühen und Wachsen und die Pflege der Anlagen und Wege sieht, wird sich an dem Fortschritt freuen. Nach der Regelung der Terrainverhältnisse konnte eine Erweiterung der Anstalt beantragt werden, die sich dann von 1909 – 1913 in großem Maßstabe vollzog. Die Anstalt ist jetzt eingerichtet für rund 1150 Kranke; sie umfaßt 20 große mehrgeschossige Krankengebäude mit einer Gliederung in 49 selbständige Abteilungen mit zusammen 22 Badewannen, 12 Beamtenwohngebäude, eine Döckersche Infektionsbaracke, ein Wirtschaftsgebäude mit Kochküche, Waschküche, Zentralbad, Maschinenhaus und Dampfdesinfektionsapparat, zwei Gewächshäuser, eine Leichenhalle mit Sektionsraum, eine Kirche und den Gutshof, welcher der über 160 Hektar umfassenden Landwirtschaft dient.
Nicht minder groß wie der Auf- und Umschwung im äußeren Bilde der Anstalt st der neuzeitliche Fortschritt in Einrichtungen und Geist der Krankenbehandlung. Nicht mehr nur auf Bewahrung und Unterbringung, sondern auf möglichst eingehende Berücksichtigung der Persönlichkeitsbedürfnisse zielt die moderne Psychiatrie ab, und die Fachwissenschaft ist weit genug entwickelt, um auf gründliche Untersuchung das ärztliche Handeln im Einzelfalle aufbauen zu können. Klinische Behandlung mit Bettruhe, Bädern und Arznei dient den frischen Fällen, während vielfältige Beschäftigungsmöglichkeit für Rekonvaleszenten und chronisch Kranke dazu helfen soll, den Kontakt mit dem Leben wieder zu gewinnen und die Persönlichkeit erstarken zu machen. Die Entlassungen der Kranken können nunmehr in der Regel nach viel kürzerer Behandlungsdauer erfolgen und zudem hat die Provinzialverwaltung Mittel bereit gestellt, um auch für die vor vollständiger Genesung entlassenen Kranken durch Besuche eines Anstaltsarzte und einer geschulten Pflegerin im Heimatort eine sachgemäße Betreuung zu leisten und nach Möglichkeit Rückfälle und Wiederaufnahmen verhindern zu helfen. Die Aufgabe des modernen Psychiaters beschränkt sich nicht mehr nur auf die Behandlung internierter Geisteskranker, er ist zum Träger geworden aller Bestrebungen für die Erhaltung der geistigen und nervösen Gesundheit unseres Volkes; seine Mitarbeit an öffentlichen Aufgaben, an den Hilfsschulen, bei der Fürsorgeerziehung, an den Strafanstalten, vor dem gerichtlichen Forum, bei den Beratungsstellen für Trinker, für Psychopathen, für eugenische Fragen usw., wird nach und nach, so hoffen wir, die eingewurzelten Vorurteile und unbegründetes Mißtrauen zu besiegen vermögen. Möchte die freundliche Ausgestaltung unserer Anstaltsanlagen dazu beitragen, in diesem Sinne zu wirken!
Sehr bald nachdem wir im Jahre 1913 die Fertigstellung der Neubauten und zugleich das 50jährige Jubiläum des Bestehens der Anstalt festlich begangen hatten, kam der Krieg und mit ihm mannigfache Wechselfälle, durch welche wir bis zum heutigen Tage noch nicht zur ungestörten Ausnutzung aller Bauten und zu ruhiger Entwicklung des Anstaltslebens gekommen sind. Schon 1914 mußten wir den vor den Russen fliehenden zirka 600 Insassen der Kreuzburger Anstalt nebst Aerzten und Personal Zuflucht gewähren, später nahmen wir das Militär-Reservelazarett und eine besondere militärische Nervenabteilung auf. Während der Wohnungsnot in der Nachkriegszeit gewährten wir dem städtischen Krankenhaus, dem städtischen Altersheim, danach der Landwirtschaftsschule und endlich dem Kinder-Erholungsheim der Kriegshinterbliebenen-Fürsorgestelle Unterkunft, und noch jetzt sind drei unserer Gebäude mit städtischen Mietern besetzt. Wir vertrauen aber auf die Zusicherung des Magistrats, daß noch in diesem Jahre auch diese Gebäude ihrem eigentlichen Zwecke wieder werden zugeführt werden können.